Der Mensch hinter den Zeilen oder jeder lange Weg beginnt mit einem ersten kleinen Schritt…
Ich wurde im Jahr 1980 in Ungarn geboren. Aufgewachsen bin ich mit Vierbeinern und Zweirädern in einem großen Dorf, der nicht weit vom Balaton liegt. Damals in den Achtzigern war es nicht viel los in Dörfern hinter dem Eisernen Vorhang. Als einzige Unterhaltungsmöglichkeit für Kinder diente das Fahrradfahren mit Freunden, die Musikschule oder die Bibliothek der Gemeinde. Ich konnte schon mit 5 schreiben und lesen und als kleines Mädchen war ich eine waschechte Träumerin. So empfand ich die Bibliothek unseres stillen und schläfrigen Dorfes als eine richtige Oase. Ich ging fast jeden Tag dahin und verschlang die Bücher und Zeitschriften wie ein kleiner Bücherwurm. Am liebsten las ich Kinderromane, Märchen, Tierbücher und Reisebücher und ließ beim Lesen meiner Fantasie den freien Lauf und träumte davon, dass ich an einem Tag ferne Länder bereise und sogar die afrikanischen Kaffernbüffel live erlebe…
Als ich an einem grauen und verregneten Novembernachmittag in 1990 erneut in der Bibliothek landete, wurde ich auf den Artikel eines meiner Lieblingskindermagazine aufmerksam, in dem ich die Adresse des Nikolaus entdeckte. In diesem Artikel stand, dass der Nikolaus gerne Briefe auf Englisch oder Deutsch von Kindern empfängt und diese natürlich auch beantwortet. Sofort war ich Feuer und Flamme, da Nikolaus und Weihnachten für mich als Kleinkind immer ein besonderes Highlight des Jahres war.
Ich entschloß ihm einen Brief zu schicken. Derzeit lernte ich schon sowohl Deutsch als auch Englisch. Ich schrieb ihm deshalb heimlich einen Brief auf Deutsch. Natürlich war meine Schrift sehr wortkarg und sprachlich auf keinen Fall fehlerfrei…Im Sattel meines in dem Werkstatt meines Opas rosarot lackierten kleinen “Csepel” Fahrrades brach ich auf, diesen ominösen Brief auf dem Postamt meines Dorfes im Geheimen nach Finland aufzugeben. Danach wartete ich aufgeregt auf die Antwort. Kurz vor Weihnachten passierte das Wunder und der Brief vom Nikolaus ankam! Meine Eltern waren sehr überrascht, dass ich aus dem Nichts einen Brief aus Finland bekam und konnten kaum warten bis ich aus der Schule nach Hause kam. Ich erzählte ihnen alles und war sehr froh darüber, dass der Nikolaus meinen Brief beantwortete.
Da mein Deutsch damals natürlich noch nicht gut war, konnte ich die Zeilen des Nikolaus nicht vollständig verstehen. Deshalb brachte ich den Brief am nächsten Tag in die Schule mit und zeigte ihn meinem Deutschlehrer. Er war von meiner Aktion sehr beeindruckt und las den Brief für die ganze Klasse vor. Danach übersetzte er den Inhalt für uns und lobte mich vor meinen Mitschülern und gab mir sogar eine extra Fünf, die hier in Ungarn als die beste Note galt. Kurz nach der Wende war es noch in meinem Dorf sehr ungewöhnlich, einen Brief aus dem Ausland zu bekommen. So sorgte meine Postsendung aus Finland sogar auf dem Postamt für Aufsehen und es sprach sich herum, dass die kleine Julie einen Brief von dem Nikolaus bekam…und ich schwebte in voller Euphorie! Dieser Brief war ein Meilenstein in meinem Leben. Das erste Mal erfuhr ich die bezaubernde Magie der Sprachen im wirklichen Leben und spürte wie gut es sich anfühlen kann, eine Fremdsprache sprechen zu können und trotz der sprachlichen Isolation meiner Muttersprache über Sprach- und Kulturbarriere hinweg kommunizieren zu können. So küsste mich der Brief des Nikolaus wach und motivierte mich enorm, Englisch und Deutsch auf höchstem Niveau zu erlernen. Natürlich ahnte ich damals mit 10 Jahren aber nicht, dass ich auf dem Weg nach dem Postamt im Sattel meines rosaroten Fahrrades einen ersten kleinen (und wichtigen) Schritt in Richtung meiner Zukunft mache… Übersetzen ist für mich nämlich nicht nur ein Beruf geworden, sondern viel mehr. Es ist eine Berufung, eine echte Leidenschaft…
Aber das ist bereits Geschichte und der Brief des Nikolaus ist immer noch ein gut behütetes Stück meines Schatzkammers, welches Sie jetzt auch lesen dürfen, falls Sie dazu Lust haben. Einfach nur klicken!
P.S.: Leider habe ich die afrikanischen Kaffernbüffel immer noch nicht live erlebt, aber ich hoffe, mein Traum steht nicht länger in den Sternen…